Auf der Flucht nach vorn

Der Mittelständler Fahrzeugtechnik Dessau hat einen mutigen Schnitt gemacht: Um sein Überleben zu sichern, hat sich das ostdeutsche Unternehmen zu einem außergewöhnlichen Schritt entschlossen. Statt nur Zulieferer zu sein, baut die Firma nun eigene Nahverkehrszüge - mit Erfolg.

DESSAU. Sekt oder Selters, lautet Joachim Pfannmüllers Wahlspruch. Der Vorstandsvorsitzende der Fahrzeugtechnik Dessau AG steht vor dem neuen Regionalzug "Protos", was aus dem Griechischen übersetzt "der Erste" heißt. Passender hätte der ostdeutsche Hersteller von Schienenfahrzeugen seine Neuentwicklung nicht nennen können: Es ist das erste serienreife Komplettprodukt der Firma aus Sachsen-Anhalt.

Aber "Protos" steht für mehr: Für die Geschichte eines Mittelständlers, der lange Zeit nur Zulieferer war, dessen Auftragsbestand immer dünner wurde und der sich zu einem ungewöhnlichen Schritt entschloss, um das Überleben zu sichern: der Flucht nach vorn. "Wir haben uns von einem reinen Zulieferer zum kompletten Zugbauer gewandelt", sagt Vorstandschef Pfannmüller stolz.

"Protos" ist das Ergebnis. 30 Monate und mehrere Mill. Euro hat die Entwicklung des Regionalzuges gekostet. Ende November wird der letzte von fünf bestellten Triebzügen an die niederländische Verkehrsgesellschaft Connexxion ausgeliefert und dort in Betrieb genommen. Die Züge bieten Platz für rund 90 Fahrgäste pro Wagen.

Dessau. Schon seit mehr als 100 Jahren werden in der Stadt in Sachsen-Anhalt Schienenfahrzeuge hergestellt. Nach der Teilung Deutschlands montierten die Waggonbauer Kühlzüge für den gesamten Ostblock (siehe "Tradition"). Nach der Wende wagte das Unternehmen 1995 auf dem Gelände der von der Treuhand geschlossenen Waggonbau Dessau GmbH einen Neuanfang - unter dem Namen "Fahrzeugtechnik Dessau" positionierte man sich als Zulieferer von Antriebssystemen, Türmodulen und Wagenkästen für Bahnen.

Anfangs funktionierte dies, doch in den vorigen Jahren ereilte die Firma ein typisches Schicksal von Zulieferern: der Preisdruck stieg, Aufträge der großen Hersteller blieben aus. Die Zukunft des Unternehmens mit rund 170 Mitarbeitern stand auf dem Spiel. Pfannmüller und seine Kollegen entschlossen sich zu einer Art "Vorwärtsintegration": dem Bau eigener Fahrzeuge.

"Es war ein hartes Ringen, die Mitarbeiter von der Strategieänderung zu überzeugen", sagt Pfannmüller rückblickend. Zwar hatten die Dessauer mit Renommee-Projekten wie der Fertigung des Luxus-Zuges "Metropolitan" für die Deutsche Bahn bewiesen, dass sie in der Konstruktion auf hohem Niveau arbeiten. Doch ging der Zug nie in Serie.

"Es war eine große Herausforderung, aus den einzelnen Teilen ein funktionierendes Gesamtsystem zu entwickeln", sagt Pfannmüller. Oft haben Konstruktionsabteilung und Management bis spät in die Nacht daran gearbeitet. Mit dem "Protos" setzt Fahrzeugtechnik Dessau auch finanziell alles auf eine Karte.

Der Einsatz hat sich offenbar gelohnt - denn der Regionalzug war die Visitenkarte, um einen finanzstarken Investor zu gewinnen. Im Juni 2006 kaufte der größte russische Schienenfahrzeughersteller, Transmash-Holding, die Mehrheit am ostdeutschen Mittelständler, dessen Anteile bis dahin in der Hand des Managements und der Belegschaft lagen.

Transmash, mit 14 Einzelbetrieben und einem Jahresumsatz von 1,6 Mrd. Dollar, will die Dessauer nach Worten Pfannmüllers zu einem Entwicklungszentrum von Schienenfahrzeugen für Osteuropa aufbauen. Ein erster Auftrag liegt vor: Die Fahrzeugtechnik entwickelt derzeit einen Güterwagen für Autotransporte.

Die Zusammenarbeit mit den Russen bezeichnet Pfannmüller als gut. "Transmash geht es wie allen anderen großen Zugbauern der Welt ums Geschäft", sagt er nüchtern. Wohl auch deswegen gibt es aus seiner Sicht keine wirklich gravierenden Unterschiede in der Managementkultur. "Viele der jungen russischen Entscheider trinken eher Tee als Wodka", beobachtet Pfannmüller.

Er treibt die nicht immer leichte Integration der Dessauer in die russische Holding voran, um langfristig die Hälfte des Umsatzes mit der Mutter abzuwickeln. Der Umsatz 2007 von etwa 30 Mill. Euro wird nach Firmenangaben noch je zur Hälfte durchs Zuliefergeschäft und den Bau des "Protos" erwirtschaftet. Transmash sichere die finanzielle Kraft, mit dem Regionalzug den schwierigen Markteintritt zu schaffen.

Mit dem "Protos" treten die Dessauer in Wettbewerb mit den Etablierten der Branche: Bombardier, Siemens, Alstom und Stadler. An über 400 Ausschreibungen hat sich die Firma in den vergangenen Monaten beteiligt. In direkter Konkurrenz zu den Großen sieht sich der Newcomer aber nicht: "Unsere Kunden sind Verkehrsgesellschaften, die Züge in kleinen Serien mit individuellen Ansprüchen ordern wollen", sagt der Vorstandschef. Die Fertigung von 20 Zügen im Jahr könnte die Dessauer Kapazitäten gut auslasten.

Branchenexperte Martin Jakobs vom Berliner Beratungsunternehmen SCI Verkehr räumt dem Vorstoß durchaus Chancen ein. "Wenn der neue Zug ohne Probleme in Betrieb geht, könnten weitere Aufträge folgen", sagt Jakobs. Insgesamt wachse der Markt von Triebwagenzügen mit einem jährlichen Auftragsvolumen von 425 Mill. Euro in Deutschland. Viele kleine Verkehrsgesellschaften hätten für die nächsten Jahre Investitionen angekündigt. Allerdings gebe es wegen freier Kapazitäten bei den großen Herstellern einen enormen Konkurrenzkampf.

In Dessau lässt man sich davon nicht abschrecken. Pfannmüller will die Flucht nach vorn vorantreiben - auch regional gesehen. Der Nahe Osten etwa sei für Nahverkehrszüge ein großer Markt.

Tradition

Ursprünge

Die Ursprünge der Fahrzeugtechnik Dessau liegen mehr als einhundert Jahre zurück: 1895 wurde in der ostdeutschen Stadt die Deutsche Gasbahngesellschaft gegründet, fünf Jahre später wurde die Firma in Dessauer Waggonfabrik umgetauft. Sie stellte Güterwagen, Gaslokomotiven und U-Bahnwagen her. Nach dem zweiten Weltkrieg versorgte sie als VEB Waggonbau Dessau von der DDR aus den Ostblock mit Kühlzügen.

Wende

Nach der Wende entstand die Waggonbau Dessau GmbH im Verbund der Deutschen Waggonbau AG. Diese AG wurde 1994 an den US-Finanzinvestor Advent verkauft. Ein Jahr später wurde Waggonbau Dessau geschlossen.

Neubeginn

Die Treuhand schickte damals den Unternehmensberater Joachim Pfannmüller aus Hamburg nach Dessau - er sollte das Unternehmen abwickeln. Doch er fand "so viel fachliches Potenzial" vor, dass er mit einem Teil der Belegschaft 1995 einen Neuanfang wagte: Es entstand die heutige Fahrzeugtechnik Dessau.

Quelle: Handelsblatt; 26.11.2007


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